Resilienz in Zeiten des Coronavirus (60)
Wir sind gerade an einer Epochenschwelle
Nach der Corona-Krise wird manches anders sein als zuvor – moderne Gesellschaften wandeln sich ja ständig, und die Krise ist ihr Normalzustand. Aber gibt es wirklich gute Gründe, einen Epochenbruch zu behaupten?
Für Andreas Reckwitz reagiert der «Alles sollte anders werden»-Diskurs kritisch auf die Epochenschwelle der Spätmoderne, an der wir (die westlichen Gesellschaften) uns schon seit den 1980er Jahren befinden. Diese Epochenschwelle ist keine plötzliche Revolution, sie wird von niemandem zentral gesteuert. Ein Ereignis wie die Corona-Krise kann den gesellschaftlichen Transformationsprozesses symbolisieren und wie ein Katalysator verstärken.
In der Geschichte der Moderne kennen wir nur wenige Epochenschwellen:
- zu Beginn die Entstehung der frühen Moderne Ende des 18. Jahrhunderts,
- die Schwelle am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Aufstieg der industriellen Moderne,
- die dritte Schwelle in den 1980er-Jahren, an der die Spätmoderne anbricht.
Allmähliche Wandlungsprozesse seit den 1980er Jahren konnten wir für lange Zeit kaum wahrnehmen und haben wir in ihrer Bedeutung unterschätzt. Spektakuläre Ereignisse wie 1968, Mauerfall, 9/11, Trump-Wahl sind leichter zu erkennen. In Epochenschwellen hingegen verdichten sich eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung: in der Ökonomie, der Technologie, der Kultur und der Sozialstruktur.
Andreas Reckwitz zeigt, wie sich die verschiedenen leisen Revolutionen dieser Epochenschwelle seit den 1980er Jahre gegenseitig verstärken: die Digitalisierung, die das Soziale umwälzt; die Umwälzung der Erwerbstätigkeit und der Wertschöpfung in Richtung Wissens- und Dienstleistungsökonomie; die individuelle Selbstentfaltung als Leitwert; die verstärkten sozialen Ungleichheiten und schließlich Globalisierung und Migration. Er betrachtet die Spätmoderne als eine radikalisierte Moderne. Seit den 1980er-Jahren fördert Regierungspolitik diese Dynamisierung: Wettbewerb und Erweiterung der subjektiven Rechte haben die Deregulierung und Entgrenzung von Ökonomie und Individuen forciert.
Doch aus den silent revolutions sind noisy revolutions geworden. Die Entgrenzungen drängen in unsere Lebenswelten ein, und fast niemand kann sich heute den Folgen der Freiheits-, Konsum- und Mobilitätsgewinne entziehen: die verschärfte soziale Ungleichheit, kulturelle Desintegration, psychische Frustrationen, Vernachlässigung öffentlicher Güter, Marktüberhitzungen und verstärkte ökologische Gefährdungen. Insbesondere seit der Finanzkrise und dem Aufstieg des Populismus wird die Öffentlichkeit sich der Kosten des Wandels bewusst. Der Optimismus der 1990er- und 2000er-Jahren hat sich in den westlichen Gesellschaften eine Fortschrittsskepsis gekehrt. Politische Protestbewegungen wie die Gelbwesten oder Fridays for Future sind Träger dieser Kritik.
In diesem Kontext schlug das Coronavirus wie ein Asteroid auf. Mit ihm wird sichtbar, dass die akademischen Berufe in ihren Homeoffices ganz anders von der Krise betroffen sind als die gesellschaftstragende service class. Ohne die Krise der Spätmoderne, die seit etwa 10 Jahren in unser Bewusstsein rückt, wäre das Coronavirus wohl nur eine banale Pandemie – eine menschliche Tragödie ohne intellektuellen oder politischen Nährwert. Angesichts der verbreiteten Desillusionierung kann das Virus jedoch als Warnung und als Chance für einen gesellschaftlichen Neubeginn gedeutet und dramatisiert werden. Es scheint, als ob man nur auf diese Katastrophe gewartet hätte, um zeigen zu können, was in der Spätmoderne alles schiefläuft. ...
Lesen Sie im nächsten Beitrag, wie Andreas Reckwitz die möglichen Auswirkungen der Corona-Krise auf unsere Gegenwartsgesellschaft skizziert und dabei den Blick auf einen resilienten Staat richtet.
Lesen in der ZEIT den originalen Artikel von Andreas Reckwitz.
Bleiben Sie gesund und bleiben Sie verbunden.
Ihre Regula Hug
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