Resilienz in Zeiten des Coronavirus (61)
Sind wir gerade an der Schwelle zu einem resilienten Staat?
Die Corona-Krise wurde zum ungeheuren Epochenbruch stilisiert. In Wahrheit erleben wir etwas anderes: Der Staat erfindet sich gerade neu – indem er Risikopolitik betreibt, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz.
Mit der Corona-Krise wird schmerzhaft deutlich, dass unsere gesellschaftlichen Strukturen mancherorts nicht mehr auf der Höhe der Entwicklung sind. Wir erleben eine Moderne der Entgrenzung, und das Feld der Politik hat diesen Prozess über mehrere Jahrzehnte flankiert. Die Proteste seit etwa 2010 beklagen zu Recht, dass diese entgrenzende Politik langfristig problematisch ist: Zu Anfang mag sie richtig gewesen sein, um der gesellschaftlichen Entwicklung einen zusätzlichen Schub zu geben, aber die Indizien verdichten sich, dass eine hochdynamisierte Gesellschaft in vollem Tempo eines Staates bedarf, der nicht noch weiter mobilisiert und dereguliert, sondern der stabilisiert und reguliert. Eines Staates, der nicht mitläuft, sondern gegenhält, der nicht beschleunigt, sondern eindämmt.
Wir erfahren gerade einen Durchsetzungsmangel von Regeln: Neben den Überlastungen im Gesundheits- und Pflegebereich sind wir verschiedenen Gefährdungen ausgesetzt, bspw. der aggressiven Kommunikation im Internet oder der die globale Gefährdung durch den Klimawandel, die nach einer staatlichen Förderung klimafreundlicher Ökonomie verlangt.
Die drei großen Krisen der Spätmoderne – 9/11, die Finanzkrise und die Corona-Krise – machen eine Neujustierung der Aufgaben von Staatlichkeit dringlich. Während sich in den 1980er-Jahren das Staatsmodell vom Wohlfahrtsstaat zum «Wettbewerbsstaat» gewandelt hat, geht es nun darum, einen Infrastrukturstaat und einen resilienten Staat zu erschaffen.
- Ein Infrastrukturstaat, der die Qualität basaler öffentlicher Güter und Einrichtungen – Gesundheit, Bildung, Wohnen, Verkehr, Energie – sichert.
- Ein Resilienter Staat, der für permanente Gefährdungen – Pandemien, digitale Crashs, Terror, Hasskriminalität, Klimawandel – Vorsorge schafft und so auch für Katastrophenfälle gewappnet ist.
Während der Wettbewerbsstaat sich auf die Rolle eines Coaches und Schiedsrichters zurückzog, weil die Gesellschaft scheinbar ohne ihn florierte, ist eine Gesellschaft, die sich der Verletzlichkeit des Sozialen und seiner Bürger bewusst ist, auf eine resiliente Infrastruktur angewiesen. Die genaue Ausrichtung dieser veränderten Staatlichkeit müsste selbst Gegenstand der Debatte sein: Ein solcher resilienter Staat kann liberaler oder autoritärer ausgerichtet sein (beispielsweise durch digitale Kontrolle); er kann in Richtung soziale Grundsicherung und ökologische Nachhaltigkeit oder öffentliche Sicherheit akzentuiert werden.
Politik und Staat sind selbst ein Teil der Gesellschaft, ein institutioneller Komplex, der die Dynamik von Ökonomie, Kultur und Technologie zwar beeinflussen, aber nicht komplett steuern kann. Der soziale Wandel in der Moderne ist immer beides: einerseits ein ungeplanter Prozess von silent revolutions, auf den andererseits an bestimmten Punkten die Politik steuernd Einfluss nimmt. Ein Paradigmenwechsel, wie er durch die Corona-Krise ermutigt werden könnte, wäre dann genau das: ein Politikwechsel, kein Epochenbruch der Gesellschaft als Ganzes. Der Epochenbruch der 1980er-Jahre – von der Digitalisierung über die Postindustrialisierung bis zur Globalisierung – wirkt weiter, aber man würde versuchen, sie stärker über Rahmenbedingungen zu bändigen.
Und Sie? Was denken Sie zur Idee des resilienten Staates: kann die Regulierung unserer beschleunigten Gesellschaft gelingen? Schreiben Sie an
Bleiben Sie gesund und bleiben Sie verbunden.
Ihre Regula Hug
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