Resilienz in Zeiten des Coronavirus (74)
Freiheit und Bindung - oder: wie wir zum Menschen werden
Seit Beginn der Corona-Krise wurden unsere vertrauten Lebensformen von Freiheit und Bindung arg durcheinandergewirbelt. Nicht ganz einfach, im Einklang mit sich selbst und in Verbundenheit mit den Anderen zu bleiben.
Zum Glück sind wir Menschen fähig zu einer vernünftigen, kooperativen, verantwortungsvollen und moralischen Identität. Michael Tomasello hat diesen universalistisch-philosophischen Anspruch von Immanuel Kant aus anthropologischer Sicht erforscht. Seine Erkenntnis: Der Mensch ist ein Tier und gleichzeitig ist er einzigartig. Diese Einzigartigkeit ist aus einer Kombination aus Evolution und individueller soziokultureller Erfahrung entstanden. Die Entwicklung hin zu einer kognitiven und einer moralischen Identität haben Kinder mit etwa sechs Jahren erreicht. Dazu hat Tomasello vier Entwicklungsphasen identifiziert:
- Babys teilen mit ihren Bezugspersonen Gefühle, so wie es andere Säugetierbabys tun, insbesondere Affen.
- Nach etwa 9 Monaten können sie mit anderen Individuen ein gemeinsames «Wir» erzeugen und dabei die Perspektive der jeweils anderen einnehmen.
- Im Alter von etwa drei bis vier Jahren erweitert sich diese gemeinsame Intentionalität zur kollektiven Intentionalität. Die Kindern können nun mit Erwachsenen und Gleichaltrigen kooperativ kommunizieren, Konventionen und Normen respektieren, an ihnen teilhaben und sie auch vertreten.
- Etwa zur Zeit der Einschulung verfestigen sich Vernunft und Verantwortlichkeit zu einer kognitiven und moralischen Identität. Eigene Überzeugungen können die Kinder revidieren, wenn plausible Gründe dafür angegeben werden. Ja, sie können solche Gründe sogar zum voraus antizipieren, bevor sie eigens ausgesprochen werden.
Daraus folgert Tomasello, dass Empathie alleine noch nicht ausreicht, um eine moralische Persönlichkeit zu entwickeln. Es braucht ebensosehr kognitive Tugenden, die die Verbindung zwischen dem Individuum und dem Aufbau einer auf Kommunikation, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und perspektivischer Flexibilität basierenden Gesellschaft ausmachen.
Diese moralischen und kognitiven Tugenden versteht Georg Hegel als Freiheit. Für ihn entsteht Freiheit im Eingehen von Bindungen an Menschen und gemeinsame Objekte. Für ihn ist diese Art von Freiheit und Bindung letztlich Selbstbestimmung. Denn indem man sich aus vernünftigen Gründen an etwas bindet, befreit man sich von den zufälligen Neigungen und sozialen Einflüssen, die mal in die eine oder andere Richtung lenken, aber nicht Ausdruck des eigentlichen freien Selbst sind. Freundschaften und die Ehe sind für Hegel als Formen der Freiheit zu denken. Seine Formel: «Bei sich selbst sein im Anderen.» Im Verhältnis zum Anderen kommt man zu sich selbst und fühlt sich dadurch frei. Martin Buber formulierte es so: «Der Mensch wird am Du zum Ich.»
Diese Haltung spiegelt sich beispielsweise auch in der Pädagogik von Maria Montessori wider. Sie stützt das pädagogische Motto «Hilf mir, es selbst zu tun!» mit der Haltung von «Freiheit und Bindung» und meint damit die Erziehung zur Selbständigkeit und zur Freiheit in Verbindung mit der Achtung vor der Persönlichkeit des Einzelnen und vor den Bedürfnissen des Anderen.
Wahrscheinlich müssen wir in der aktuellen Corona-Zeit neue Formen finden, die uns weiterhin das Erleben von achtsamer Freiheit und liebevoller Bindung ermöglichen. Gerade und erst recht auch mit Maske und Abstandsregeln. Individuelle Resilienz und soziale Resilienz gelingen nur im Zusammenspiel, wie beim Musizieren, auch in der Schule. Vielleicht hilft dabei der Blick auf die Resilienz-Konzepte, denn die individuelle Entwicklung hängt direkt mit dem gemeinschaftlichen Leben zusammen.
Auf einen guten Schulstart!
Bleiben Sie gesund und bleiben Sie verbunden
Ihre Regula Hug
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